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13.06.2019

Leh­ren aus hun­dert Jah­ren Bran­chen­tarif­ver­trä­gen und die Zu­kunft der Tarif­auto­nomie

​​​​​​​​​​​​​Volkswirtschaftsprofessor Funk sprach zu den Lehren aus hundert Jahren Branchentarifverträgen und der Zukunft der Tarifautonomie in Deutschland.

​​Professor Dr. Lothar Funk referierte auf der 45. Jahreskonferenz der internationalen Gesellschaft zur Erforschung der deutschen Politik im Panel zu politischen Herausforderungen zum Thema Industrielle Beziehungen in Deutschland. Die Tagung fand am 28./29. Mai 2019 im German House der Deutschen Botschaft in London statt (vgl. Programm.pdf).

Funk stellte fest, dass Branchentarifverträge lange Zeit kennzeichnend waren, weshalb sie seit den 1980er Jahren an Bindekraft verloren haben und welche Zukunftsperspektiven sie besitzen. Generell gelte: Die Ausgestaltung der Lohnverhandlungen eines Landes und der Arbeitsbeziehungen insgesamt beruht auf historischen Kompromissen vorrangig zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite. Ein solcher Kompromiss gelang in Deutschland zunächst Ende 1918 im Stinnes-Legien-Abkommen. Die im Anschluss erfolgende Festschreibung dieser Tarifautonomie in den Arbeitsbeziehungen auch in der Weimarer Verfassung vor hundert Jahren gilt auch heute noch als eine zentrale Errungenschaft.​

Das Stinnes-Legien-Abkommen zwischen​ führenden Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern am Ende des Ersten Weltkriegs bewirkte, dass schon 1919 Tarifautonomie und Kollektivvereinbarungen Verfassungsrang erlangten. Auch wenn dieses System letztlich an den wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der Weimarer Republik scheiterte (vgl. Funk/Lesch 2018), diente es nach ihrem Verbot in der Nazi-Zeit in modifizierter Form als Vorlage für die grundgesetzliche Regelung der Beziehungen der Tarifvertragsparteien vor siebzig Jahren im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. 

Heute gilt Tarifautonomie häufig als Eckpfeiler der deutschen Wirtschaftsordnung, auch wenn die Ausgestaltung ihres genauen Inhalts durch Tarifordnungspolitik oft umstritten ist (vgl. Funk 2018). Galten Flächentarifverträge bis Ende der 1970er Jahre als Erfolgsmodell oder wurden von Wirtschaftsliberalen regelmäßig nicht als größeres Problem angesehen, wie die Fachliteratur belegt, so änderte sich dies mit steigender Arbeitslosigkeit und mehr Weltmarktkonkurrenz in den 1980er Jahren. 

Zur Herausforderung der Tarifautonomie wurden vor allem der deutsch-deutsche „Mauerfall“ vor dreißig Jahren sowie weitere Megatrends wie Globalisierung, Bedeutungszunahme der Dienstleistungen und höhere Frauenerwerbstätigkeit. Als Reaktion darauf kam es zu strategischen Einflussnahmen der Arbeitgeberseite sowie tarifordnungspolitischen Eingriffen der Regierungen zur Beschäftigungssteigerung. Kennzeichnend wurden: Abnahme des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, zunehmende Bedeutung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung sowie signifikante Abnahme der Tarifbindung. Heute gilt die Flächentarifbindung aufgrund ihrer gewaltigen Erosionstendenzen sogar als „Schweizer Käse“ (Oberfichtner/Schnabel 2018), dessen Löcher immer größer werden.  

Äußerst kontrovers ist zwischen Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern, wie hierauf zu reagieren ist und welche Rolle der Staat dabei spielen sollte. Kennzeichnend ist „strategisch kalkulierte Kommunikation“ (Fehmel 2012) besonders zwischen den Tarifpartnern sowie​ zur (medialen) Beeinflussung des Regierungshandelns und der Öffentlichkeit. Dies lässt sich anhand der Debatte zum Tarifbindungsrückgang darstellen. Zunehmende Einkommensungleichheit wird häufig hierauf zurückgeführt (vgl. Deutscher Bundestag 2018). 

Funk zeigte im Vortrag nach dieser Einordung einige Möglichkeiten der Versachlichung der Debatte auf. Durch eine angemessene Berücksichtigung der unterschiedlichen Kalküle der handelnden Akteure, so Funk, ließe sich die Bedeutung von Branchentarifverträgen – gesamtgesellschaftlich vorteilhaft – wieder stärken. 

Im Anschluss an die Vorträge im Panel, an dem auch der renommierte Politökonom Professor Wade Jacoby,  Brigham University, USA, teilnahm, kam es zu einer lebendigen Debatte zu den Vorträgen und insbesondere auch der aktuellen deutschen Wirtschaftspolitik sowie der Rolle des Systems der Arbeitsbeziehungen unter anderem auch auf die dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands. 

Literatur

Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung – Entwicklung der Tarifbindung in Deutschland, Drucksache 19/6502 vom 12.12.18, Berlin 2018.​

Fehmel, T.: Strategisches Erinnern. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 37. Jg., 2012.​

Funk, L.: Institutionalisierte Sozialpartnerschaft seit 1918: überfordert in der Weimarer Demokratie, keineswegs erfolglos in der Bundesrepublik, 98. Jg., 2018.

https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2018/11/tarifpartnerschaft-ein-altes-aber-gefaehrdetes-buendnis/​


Funk, L./Lesch, H. (Hrsg.): 100 Jahre Sozialpartnerschaft. Themenheft des Sozialen Fortschritts, 67. Jg. (2018), H. 10.  

https://www.sozialerfortschritt.de/wp-content/uploads/2018/10/Editorial201810.pdf

Oberfichtner, M./Schnabel, C: The German model of industrial relations: (where) does it still exist?  IZA Disscussion Paper 11064, Bonn 2017. ​

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